< PreviousFachliche Informationen Bewegungs- und Gesundheitsförderung Schleimbeutel Schleimbeutel (Bursae) sind kleine, mit Flüssigkeit gefüllte Kis sen, welche die Aufgabe haben, Reibungen zu vermindern und Druckbelastungen zu verteilen. Sie befinden sich zwischen Kno chen und Sehnen, zwischen zwei Sehnen und auch zwischen Knochen bzw. Sehnen und der darüberliegenden Haut. Der Kör per ist in der Lage, bei Bedarf neue und zusätzliche Schleimbeu tel zu bilden, vor allem in Gebieten, in denen wiederholt stärkere Belastungen auftreten. Die Bursitis (Schleimbeutelentzündung) wird nach ihrer Ursache eingeteilt. Mechanisch bedingte Schleimbeutelreizun gen können durch ein Trauma, beispielsweise einen Sturz oder einen Schlag, aber auch durch dauerhafte mechanische Irritati on, beispielsweise Reibung, entstehen. Diese Reizung verursacht eine Entzündung, die ihrerseits wiederum eine Flüssigkeitssekre tion in den Schleimbeutel hinein veranlasst. Als Ergebnis ent stehen Schwellung und Schmerzhaftigkeit. Bei den oberflächlich liegenden Schleimbeuteln ist die darüber verlaufende Haut ge rötet und erwärmt. Toxische Schleimbeutelentzündungen können als Begleit reaktion im Rahmen von Entzündungsprozessen an Sehnen auf treten. Besonders häufig ist der Schleimbeutel über der Sehne des Supraspinatus im Schulterbereich betroffen. Hier können auch Kalkablagerungen an Sehne und Schleimbeutel auftreten. Man spricht in diesem Fall von einer kalzifizierten Burisitis. Von einer infektiösen Bursitis wird dann gesprochen, wenn die Entzündung durch äusserlich eingedrungene Bakterien, bei spielsweise bei einem Sturz mit Schürfwunden oder auch als Fol ge einer allgemeinen infektiösen Erkrankung auftreten, wie es bei der rheumatoiden Arthritis passieren kann. Chronische Bursitis Eine chronische Schleimbeutelentzündung kann durch wieder holte oder anhaltende Schübe einer akuten Schleimbeutelentzün dung oder durch wiederholte Verletzungen verursacht werden. In einigen Fällen verdickt sich die Wand des Schleimbeutels. Wenn auf einen beschädigten Schleimbeutel eine ungewohnte Belastung ausgeübt wird, verschlimmert sich die Entzündung. Langanhaltende Schmerzen und Schwellungen können die Beweg lichkeit einschränken, wodurch die Muskeln wiederum schwächer werden. Die Schübe einer chronischen Schleimbeutelentzündung können mehrere Monate anhalten und häufig wieder auftreten. Fibromyalgiesyndrom Das Fibromyalgiesyndrom ist eine generalisierte Tendomyopathie, was zunächst einmal nur aussagt, dass sowohl Sehnen als auch Muskeln betroffen sind. Die Schmerzsymptomatik kann nicht mechanisch erklärt werden. Die Schmerzen verteilen sich auf alle Muskeln, Sehnen und Gelenke. Sie werden häufig mit «schwerem Muskelkater» verglichen und sind in Ruhe oft schlimmer als bei Bewegung. Die Sehnenansätze und Muskeln weisen uncharakte ristische, schmerzhafte Druckpunkte, sogenannte Tender Points auf. Für eine Diagnose der Fibromyalgie müssen 11 von 18 Druck punkten positiv sein. Entzündungsmarker im Blut wie etwa die BSG (Blutsenkungsgeschwindigkeit) oder das CRP (Creaktives Protein) sowie auch der Rheumafaktor sind jedoch normal. Vermutet werden vegetative Störungen und ein psychosoma Schleimbeutelentzündungen der Achillessehne zwischen Knochen und Sehne (Retrocalcaneal) und zwischen Sehne und Haut (Subcutaneous) Gesunde SchleimbeutelSchleimbeutelentzündungen Retrocaneal bursa Subcutaneous calcaneal bursa Subcutaneous calcaneal bursitis Retrocaneal bursitis Achillessehne Schwellung und Rötung Bewegungsmedizin – Nr. 22 / September 2024 1011 tischer Hintergrund. In den Industrieländern sind 2–4 Prozent der Bevölkerung betroffen, zu 90 Prozent Frauen zwischen dem 30. und dem 60. Lebensjahr. Die Ursache ist weiterhin unklar. Neben den Tender Points sind Morgensteifigkeit, allgemeine Abgeschlagenheit, Müdigkeit und Schlafstörungen typisch. Taub heitsgefühle in den Extremitäten und im Gesicht können ebenfalls als Begleiterscheinung auftreten. Die Symptome können perio disch auftreten (in Schüben) oder andauernd (chronisch) sein. Die Beschwerden verstärken sich bei körperlicher Überbelastung, aber auch in völliger Ruhe sowie bei Kälte und Stress. Eine Ten denz zu Depressionen, Ängsten und Kontaktstörungen lässt sich in einigen Fällen beobachten. Psychosozialer Stress und psychi sche Auffälligkeiten werden bei Fibromyalgiepatienten vermehrt beobachtet. In klinischen und epidemiologischen Studien findet sich gehäuft ein Muster von niedrigem Bildungsgrad, erhöhter Scheidungsrate, Übergewicht und Nikotinmissbrauch. Zur Krankheitsentstehung gibt es zahlreiche Hypothesen. Diskutiert werden die Auslösung durch einen Infekt, eine Fehlre gulation des Immunsystems, genetische Ursachen, Muskel verspannung und Depressionen. Keine dieser Hypothesen konnte in der Fachwelt bisher bestätigt werden. Es ist jedoch klar, was eine Fibromyalgie nicht ist: Sie ist keine entzündliche Erkrankung, keine degenerative Erkrankung und keine Stoffwechselkrankheit. Auch bei langer Krankheitsdauer werden weder Gelenke noch Muskeln oder Sehnen geschädigt. Viele Rheumatologen verwen den deshalb den Begriff Fibromyalgie nicht mehr und lehnen auch die Zuordnung zu den weichteilrheumatischen Erkrankun gen ab. Sie sprechen stattdessen von einer somatoformen Schmerzstörung . Die Erkrankten scheinen überdurchschnittlich schmerz empfindlich zu sein. Anscheinend werden bei ihnen die Schmerz signale vom Gehirn als deutlich stärker wahrgenommen als bei Menschen ohne Fibromyalgie. Die Erkrankung ist weder lebens bedrohlich noch gefährlich, aber andauernde Symptome können sehr belastend sein. Bewegungstherapie ist eine wichtige Säule im Behand lungskonzept. Diese sollte niedrigintensives Kraft und Aus dauertraining sowie Beweglichkeitstraining enthalten. Wärme anwendungen und Massagen können die Symptome mindern. Ein Coaching zum Stressmanagement und der Erwerb einer guten Schlafhygiene sind ebenfalls zu beachten. Die positiven Effekte des Trainings lassen allerdings rasch wieder nach, wenn das Training nicht kontinuierlich fortgesetzt wird. Ein Coaching ist unerlässlich, damit in Phasen mit stärkeren Schmerzen das Training nicht immer wieder unterbrochen wird. Abschliessend sei an dieser Stelle sei noch die Myositis (Muskelentzündung) erwähnt. Diese kann durch Infektionen mit Bakterien, Viren, Pilzen oder Parasiten entstehen. Auch Erkran kungen des rheumatischen Formenkreises können mit einer Myo sitis einhergehen. Nach einer stumpfen Verletzung (Muskelriss) bildet sich ein Hämatom. Aus bisher ungeklärter Ursache können sich hier Kalk salze einlagern, die später zu echtem Knochengewebe werden. Man spricht in diesem Fall von einer Myositis ossificans . Schul medizinisch wird deshalb bei einer akuten Verletzung der Musku latur von passiver Dehnung und Massage in den ersten 2–3 Wo chen abgeraten, da dies die Gefahr einer Myositis ossificans erhöhen würde. Literatur: Bierbach, E.: Naturheilpraxis heute . Urban Fischer Verlag, 7. Auflage, 2017 Gottlob, A.: Differenziertes Krafttraining mit Schwerpunkt Wirbelsäule . Urban Fischer Verlag, 3. Auflage, 2009 Jäckel, W. H., Genth, E.: Fibromyalgie. Zeitschrift für Rheumatologie , Springer Verlag, 2017 Peterson, L., Renström, P.: Verletzungen im Sport . Deutscher Ärzteverlag Köln, 2. Auflage, 1993 Schäffler A. (Hrsg.): Gesundheit heute . Trias Verlag Stuttgart, 2014 Valerius, K.P. et al: Das Muskelbuch. Anatomie, Untersuchung, Bewegung . KVM Medizinverlag, 4. Auflage, 2009 Wolfe, F., Hawley, D.: Psychosocial factors and the fibromyalgia syndrome. Zeitschrift Rheumatologie 57, S. 88 – 91, 1998 Umsetzung im Training Training bei TendinitisTraining bei Tendinose Hier liegt eine Entzündung vor. Es ist keine akute Entzündung vorhanden. In Akutphase: Ruhe Belastung nach Funktion der Sehne setzen: Zugbelastung Exzentrische Belastungen In Proliferationsphase: Lokales Stoffwechseltraining Bewegungsmedizin – Nr. 22 / September 2024Fachliche Informationen Bewegungs- und Gesundheitsförderung Gleichgewichtsleistungen im Dienst der posturalen Kontrolle 12 Bewegungsmedizin – Nr. 22 / September 2024Rückblick Im ersten Teil («BEWEGUNGS MEDIZIN» 21/2024) haben wir die sensomotorischen Grund lagen der Gleichgewichts leis tungen übersichtsmässig er arbeitet und den neuromus kulären Zusammenhang zur posturalen Kontrolle herge stellt. In diesem 2. Teil soll – nach einer vergleichenden Aufstellung zwischen stati scher und dynamischer Gleich gewichtsfähigkeit – ein noch nicht validierter Test zur Quantifizierung biomechani scher Belastungsindikatoren diskutiert werden. Der Ein- bein-Sprungtest (siehe Abb. 3) soll einerseits Auskunft über die Effizienz des abrufbaren, feed forwardgesteuerten Bewegungsmusters und andererseits über muskuläre Defizite innerhalb der arthromuskulären Kette geben. Die Frage bleibt noch zu beantworten, ob mit diesem horizonta len «Sprungtest» ein allfälliges Sturzrisiko zuverlässig einge schätzt werden kann. Die verschiedenen Kortexareale prozessieren die Intention zum Handeln, die Ausführung der Handlung und die motorische Kontrolle. Die entsprechende zentralnervöse Verschaltung zwi schen den verarbeitenden und kontrollierenden Ebenen (kortikal, subkortikal, supraspinal und spinal) erfolgt innerhalb des senso motorischen Systems sequentiell. Selbstinitiierte Willkürbewe gungen erfordern eine innere Entscheidung, mit einem Objekt zu interagieren (vgl. Diagramm 1). Die zielmotorische Gesamtbewe gung ist das Resultat der Auswahl aus verschiedenen Handlungs alternativen, einschliesslich derjenigen, nicht zu agieren, was zum Beispiel beim EinbeinSprungtest möglich ist. Arten der Gleichgewichtsfähigkeit Unterschiedliche physiologische Vorgänge machen eine Eintei lung in statisches und dynamisches Gleichgewicht notwendig. Weil jede Form von Gleichgewicht als Resultat komplexer feed back oder feedforwardgesteuerter neuromuskulärer Regelkreise zu verstehen ist, erfolgt eine quantitative Differenzierung auf die Systematik des Trainingsaufbaus beschränkt (vgl. Tab.1). Die Gleichgewichtsfähigkeit ist ein wichtiger Bestandteil eines gesundheits orientierten Trainings. Wie steht es aber mit der Umsetzung in den Centern? Sind die bekannten Trainingsinterventionen wirklich zielführend? In einem zweiteiligen Artikel widmen wir uns ausführlich dem Thema Gleichgewicht. Teil 2 Urs Geiger, PTScFH, CAS CADM, CAS Sportphysio therapie, Berufsschullehrer HWS Huber Widemann Schule, Basel, langjäh riger Berufsbildner, Praktikumslehrperson DZ, ETH Zürich, Buchautor 13 Bewegungsmedizin – Nr. 22 / September 2024Fachliche Informationen Bewegungs- und Gesundheitsförderung Diagramm 1: Schematische Darstellung der sequenziellen Verschaltung von der Bewegungsabsicht zur zielmotorischen Gesamtbewegung. Dem Prozess des Bewegungslernens unterliegt der stetige Abgleich zwischen erwartetem Outcome und realem Feedback mit entsprechender Korrektur des Bewegungsmus ters. Zusätzlich dargestellt sind die durch das vegetative und humorale System gesteuerten Logistiksysteme, die innerhalb des sensomotorischen Systems immer mitaktiviert werden. (U. Geiger, 2023) zielmotorische Gesamtbewegung Gedächtnis Erfahrung Motivation Aufmerksamkeit in Muskulatur und Leber Diffusion Perfusion Afferenz Bewegungsabsicht Antizipation des Bewegungsablaufs Bereitstellen des motorischen Programmentwurfs sensomotorische FeedforwardStrategie (Ziel- und Stützsensomotorik) Differenz? propriozeptiv Tiefensensibilität Oberflächensensibilität viszeralte Sensibilität arthromuskuläre Homöostase Haltung Gelenkstellungen AMV HMV aerobe anaerobe Enzyme erwartetes Outcome reales Feedback Reaktion Korrektur Logistiksysteme Atmung HerzKreislauf Energiestoffwechsel optisch akustisch vestibulär vegetative Regulation 1. Sympathikotonus 2. Endokrines System Katecholamine Bewegungsmedizin – Nr. 22 / September 2024 14Tabelle 1: Definitionen und neurofunktionale Merkmale der beiden Hauptarten des Gleichgewichts im Vergleich Gleichgewicht ist keine isolierte Fähigkeit und deshalb aufgabenspezifisch Statische Gleichgewichtsfähigkeit Gleichgewichtserhalt in relativer Ruhe stellung; «Lageempfindung» in verschie denen Körperhaltungen; basiert vor allem auf propriozeptiven, taktilen und optischen Informationen Hauptarten des GleichgewichtsDynamische Gleichgewichtsfähigkeit Erhaltung und Wiederherstellung des Gleichgewichts bei grossräumigen Lage veränderungen des Körpers; basiert vor allem auf vestibulären Informationen Auch statisches Gleichgewicht erfordert permanente Anpassung und kann nicht mit einem dualen Modell erklärt werden; überwiegend reaktiv über Feedback Regulation erfolgt über Rückkopplung (FeedbackSchlaufe) und Vorkopplung (FeedforwardHaltungsmusterSchlaufe) Räumliche Lageveränderung ist als Rei henbild aufeinanderfolgender Haltungen zusammengesetzt, die von einem Gleich gewichtszustand in den nächsten führen; überwiegend antizipativ über Feedforward Lerneffekte nur für gewähltes Bewegungsmuster, keine allgemeine Übertragbarkeit Spezifität Zielgerichtete Auswahl der passenden Transferübung Lerneffekte nur für gewähltes Bewegungsmuster, keine allgemeine Übertragbarkeit Bewegungen asymmetrisch; Dual Tasking mit Zusatzgewichten, imbalanced Variable Verfügbarkeit ausgehend von «Basisübung» Augen einseitig/beidseitig geschlossen, verschiedene Kopfstellungen Sensomotorische Strategie zur Erhaltung des Gleichgewichts bei Pertubation Störfaktor gering Fussgelenk-Strategie; Kompensation vor allem über aktive Plantarflexion (Dorsalextension) Störfaktor mittel Hüft-Strategie; Kompensation über Schwerpunkt verschiebung nach hinten über Hüftflexion bei gestreckten Beinen Störfaktor gross Schritt-Strategie; Kompensation über Ausfallschritt (Anforderung an Reaktionsschnelligkeit und «Schnellkraft») Progression multimodal; kognitive Zusatzleistungen Multidirektional; zusätzliche Bewegungsrichtungen multifunktional; motorische Zusatzaufgaben 15 Bewegungsmedizin – Nr. 22 / September 2024Fachliche Informationen Bewegungs- und Gesundheitsförderung Das Übungsbeispiel (Abb. 1) zeigt exemplarisch die haltungsbezo gene Nutzung gleichgewichtsrelevanter Parameter (Regulation in Form von Vor und/oder Rückkopplung [Erwartungsverrech nung], Spezifität, sensomotorischer Strategie bzw. Gewichtung und Progression) und die Möglichkeit, bedarfsweise von einer statischen in eine dynamische Gleichgewichtsform zu wechseln: A) Bei somatosensorischer Gewichtung können die spezifischen Gleichgewichtsfähigkeiten über folgende extrinsische und in trinsische Parameter geschult werden: – Kleine Unterstützungsfläche mit seitlicher Ausdehnung – Abstand zwischen den Füssen beliebig verändern – Unterschiedliches Aufsetzen der Füsse (Vorfuss, Mittelfuss oder Rückfuss), auch einbeinig – Varianten mit repetitiven Kniebeugen kombinieren – Veränderung der Armstellung (Stäbe seitlich oder vertikal über den Kopf führen) – Pertubation (Störfaktor) durch gegenseitiges Drücken und Ziehen über die Stäbe 1 Beschreibt die motorische Möglichkeit, den Körperschwerpunkt durch reflektorische Aktivität der Unterschenkelmuskulatur über der Unterstützungsfläche zu halten, ohne diese verändern zu müssen. B) Bei sensorischer Gewichtung können die spezifischen Gleich gewichtsfähigkeiten über folgende, primär intrinsische Parame ter geschult werden: – abwechselndes Schliessen der Augen oder Schliessen beider Augen – Kopfhaltungen oder bewegungen nach rechts/links, unten/oben oder Kopfdrehungen Personenbezogene Faktoren der posturalen Kontrolle Posturale Kontrolle liegt der Ontogenese zugrunde, also dem an geborenen motorischen Verhalten zur vertikalen Aufrichtung des Körpers gegen die Einwirkung der Schwerkraft. Die Sicherung des labilen Gleichgewichts im aufrechten Stand wird beim Übergang in (hoch)dynamische Fortbewegung unter anderem über reflek torische Streckmuster der unteren Extremitäten gesichert. Daran beteiligt sind die in arthrokinematischen Ketten verbundenen Flexoren des Fussgelenks, Extensoren von Knie und Hüftgelenk und zusätzlich des Rumpfes (Streckmuskelschlinge). Gleichgewichtstraining kann in einem gewissen Masse so wohl Reaktivkraft als auch Sprungfähigkeit steigern. Die Verbes serung dieser muskulären Leistungsfähigkeit ist auf eine Verbes serung der neuromuskulären Bahnung zurückzuführen, das heisst, die willkürliche Ansteuerung vor allem der Fuss und Un terschenkelmuskulatur gelingt besser. Entscheidende Folge da von ist eine effizientere Nutzung der Sprunggelenkstrategie1, die sich wirksam auf die posturale Kontrolle auswirkt (Taube, Gruber & Gollhofer, 2008). Krafttraining unter spezieller Berück sichtigung der Bein, Hüft und Rumpfmuskulatur, die innerhalb der Streckmuskelschlinge gegen die Schwerkraft zusammenwir ken, ist deshalb als essenzielle Trainingsmassnahme im Zusam menhang mit Gleichgewichtstraining anzusehen. Weil die Bewe gungsadaptationen in den Sprunggelenken eine überragende Rolle in der Aufrechterhaltung der posturalen Kontrolle spielen, sind die Muskeln auf diesem Bewegungsniveau im Krafttraining speziell zu berücksichtigen (vgl. Abb. 2). Durch die Überkreuzung der beiden Hauptbewegungsach sen von oberem Sprunggelenk (Dorsalextension/Plantarflexion) und unterem Sprunggelenk (Inversion/Eversion) ergeben sich vier Quadranten (ventral/lateral, ventral/medial, dorsal/medial, dorsal/ Abbildung 1: Beispiel einer komplexen Übungsanordnung mit der potenziel len Möglichkeit der sensomotorischen Gewichtung innerhalb des statischen und dynamischen Gleichgewichts (Quelle: www.vlamingo.de) Bewegungsmedizin – Nr. 22 / September 2024 162 Die Leistung einer Person kann anhand einer Vergleichsgruppe eingeordnet werden. Abb. 2: Schematische Darstellung der beiden Bewegungsachsen am Fuss, um welche die genannte «FussgelenkStrategie» adaptiv möglich ist (Pronations und Supinationsachse sind nicht berücksichtigt); in den Quadranten 1–4 sind die Muskeln benannt, die jeweils an zwei Bewegungskomponenten beteiligt sind. Art. talo-calcaneo-naviculis Art. subtalaris (USG) Flexions-/Extensionsachse M. tibialis post. M. flex. digitorum long. M. flex. hallucis long. M. triceps surae Inversions- / Eversionsachse lateral) , die in ihrem physiologischen Bewegungsradius muskulär gesichert werden müssen. Die potenzielle Gefahr einer übermäs sigen Inversion, wie etwa beim Distorsionstrauma, ist im Quad ranten ventral/lateral am grössten. Die gelenksichernden Mus keln sind hier Mm. peroneus longus und brevis, M. extensor digitorum longus und M. hallucis longus. In diesem Zusammen hang sei hier auch die herausragende Bedeutung der Dorsal extensoren (vgl. Quadranten ventral/lateral und ventral/medial) erwähnt, weil eine Schwäche dieser Muskelgruppe, vor allem des M. tibialis anterior mit dem M. extensor digtorum longus und dem M. extensor hallucis longus, als einer der bekannten Risiko faktoren für Stürze identifiziert wurde. Testing der Gleichgewichtsleistungen Unabhängig davon, ob technisch mehr oder weniger aufwändige Messverfahren zur Beurteilung der koordinativen Leistungsfä higkeiten genutzt werden, sind nur mit validierten Normwerten sogenannte Querschnittvergleiche2 möglich. Anders verhält es sich, wenn ein (Koordinations)Test für eine Längsschnittunter suchung eingesetzt wird; dann wird lediglich die Veränderung der Leistung beobachtet. Test und Testausführung müssen auch hier standardisiert sein, aber es erfolgt kein Normwertvergleich, son dern eine Beurteilung der Veränderung im Sinne eines Vorher NachherVergleichs (T. Stemper, 2018). Im medizinischen Bereich, namentlich in den Fachberei chen Neurologie, HNO und Geriatrie werden standardisierte und valide Messinstrumente genutzt, die im Assessment unter ande rem die Gleichgewichtsfähigkeit und das Sturzrisiko ermitteln (beispielsweise POMA Tinetti-Test, TUG, Romberg, BBS, Unterber- ger Tretversuch u. a. m.). Weil diese Tests normalerweise in Bezug auf die sensomotorischen Anforderungen sehr unterschwellig konzipiert sind, besteht für die genannten Tests im Centeralltag nur eine bedingte Indikation. Von einem Training im Allgemeinen wird gefordert, dass dieses aufgabenorientiert, kontextspezifisch und intensiv sein sollte und antizipatorische Anpassungsmechanismen mittrainiert werden. Eine entsprechende Testübung ist dann als spezifisch zu bezeichnen, wenn diese Rahmenbedingungen ebenfalls bewertet werden können. M. tibialis anterior M. ext. hallucis longus M. ext. digitorum long. oberes Sprunggelenk M. peroneus brevis M. peroneus longus INVERSION (alle Flexoren + triceps surae) EVERSION (alle Extensoren + Mm. peroneii) 1 4 3 2 Bewegungsmedizin – Nr. 22 / September 2024 17Fachliche Informationen Bewegungs- und Gesundheitsförderung Wenn wir davon ausgehen, dass das Risiko für Stürze vor allem nach vorn erhöht ist, sollte eine Testübung die geforderte Bewegungsdynamik und richtung berücksichtigen. Diesen Vor gaben dürfte der Sprungtest «Single leg hop» nahekommen (siehe Abb. 3). Im RehaProzess, vor allem nach Knieverletzungen, wird dieser Test genutzt, um den konditionellkoordinativen Unter schied zwischen dem verletzten und dem nicht betroffenen Bein zu quantifizieren, und um Rückschlüsse auf eine allfällige Wie deraufnahme des Sports ziehen zu können. Aufgrund seiner ho hen Anforderung an antizipatorischwillkürliche Impulsgenerati on (Frequenzierung), schnelle Kraftentwicklung im langsamen DehnungsVerkürzungsZyklus (intramuskuläre Koordination) in der Absprungphase und feedforwardgesteuerter Vorspannung zur ausreichend hohen isotonischexzentrischen Kraftentwick lung in der Landephase ist der EinbeinSprungtest als anspruchs voller und deshalb selektiver Test anzusehen. Die Effizienz der Beinachsenstabilität ist indirekt Ausdruck der qualitativen Leistungen des sensomotorischen Systems, die sich unter anderem in der intermuskulären Koordination von Hüft, Knie und Fussmuskeln ausdrückt. Diese sind nicht nur im Sinne der Rehabilitation und Verletzungsprophylaxe relevant, sondern stellen auch leistungsbestimmende Faktoren für alle schnellkräftigen Bewegungen dar. Die biomechanischen Belastungsindikatoren Bei allen Arten von einbeinigen Landephasen ist die dynamische Kniestabilität von zentraler Bedeutung. Diese wird massgeblich durch die kniegelenkumgreifende und hüftumgebende Muskula tur und zudem durch eine ausreichende Oberkörperstabilität be einflusst. Darüber hinaus hängt Stabilität von der Muskelmasse als kontraktilem Element und dessen Ansteuerung durch das Zentralnervernsystem – folglich der potenziell möglichen Kraft produktion – ab. (Grip, Tengman & Hager, 2015). Die viel zitierte Beinachsenbelastung ist primär beeinflusst durch die Belastungsrichtung der Gewichtskraft. Bei funktionel ler Beinachsenbelastung verläuft die Traglinie zwischen dem Hüftgelenkszentrum und der Mitte des Sprunggelenkes annä hernd zentral durch die Drehachse des Kniegelenks (Richard & Kullmer, 2013). Abweichungen der Achsensymmetrie können sich in ausgeprägter Abduktions oder Adduktionsstellung (Valgus/ Varus), meist mit Rotationsstellung des Femurs gegenüber dem Unterschenkel äussern. Auf die Beinachsenbelastung haben auch die Ausrichtung des Rumpfes (Oberkörperstabilität) und die Hüftabduktoren ei nen entscheidenden Einfluss. Oberkörperstabilität beschreibt unter anderem die Fähigkeit, den Oberkörper so über dem Becken zu positionieren, dass ein Optimum an Kraftproduktion, transfer und kontrolle zu den Segmenten gewährleistet werden kann (Press & Sciascia, 2006) . Der distalen Mobilität geht die proximale Stabilität voraus (Kibler et al., 2006). Tipp: Wenn das Schnellkraftniveau einen das Sturzrisiko beein flussenden Kraftfaktor darstellt, dann kann die «Sprung kraft» (hier in Form des EinbeinSprungtests) als die neuro musku läre Manifestation des entsprechenden Potenzials angesehen und getestet werden. Abbildung 3: Ausführung des EinbeinSprungtests. Im sporttherapeutischen Kontext wird die Differenz der Sprungweite zwischen betroffenem und nicht betroffenem Bein gemessen und interpretiert. (Quelle: Deutsche Kniegesell schaft Testmanual Silberstandard) Bewegungsmedizin – Nr. 22 / September 2024 18Zur Vorhersage der Kniestabilität eignen sich Oberkörper- neigung nach lateral, Hüftabduktionsmoment und Hüftinnenro- tation . Als stärkster Prädiktor gilt dabei die Hüftinnenrotation, welche funktionell mit der Hüftaussenrotationskraft assoziiert ist (M. obturatorius internus, M. obturatorius externus, M. gemellus superior, M. gemellus inferior, M. quadratus femoris, M. piriformis und M. gluteus maximus). Die Oberkörperneigung kann dabei als reaktiver Kompensationsmechanismus bei Insuffizienz der Hüft abduktoren verstanden werden, um das Hüftadduktionsmoment zu kompensieren. Eine frühe Voraktivierung von M. gluteus medi- us und minimus ist wichtig, um eine adäquate Hüftpositionie rung herbeizuführen und um Bodenreaktionskräfte abfangen zu können. Schwache Hüftabduktoren können das Bewegungsmus ter dahingehend verändern, dass sich die laterale Oberkörpernei gung zum Standbein hin verstärkt. Beim vorhersehbaren «Sprungereignis» wird die Qualität der dynamischen Stabilität auch über eine variable Anpassung des Steifigkeitsgrades inner halb der Hauptmuskelkette determiniert; durch Vorspannung wird ein Teil der Bewegungsenergie in den elastischen Strukturen des Bindegewebes gespeichert und während der konzentrischen Bewegungsphase wieder freigesetzt (Schwameder et al. 2013). Bewertung der biomechanischen Belastungsindikatoren beim Einbein-Sprungtest In Tabelle 2 können die biomechanisch relevanten Belastungsin dikatoren der posturalen Kontrolle auf allen Bewegungsebenen innerhalb von vier Kategorien eingeschätzt und mit einer Zahl quantifiziert werden (die Zahl für «Hüftinnenrotation» wird dop pelt gezählt). Ein Gesamtscore von «0» würde einem maximal ef fizienten EinbeinSprung mit ausgezeichneter arthromuskulärer Balance entsprechen. Je grösser das Gesamtscore, desto ineffi zienter und (fehl)belastender wurde der EinbeinSprung ausge führt. Wenn die Bewertung 2 oder 3 vergeben wurde, ist eine spezifische Trainingstherapie dieser pathomechanischen Kom pensation indiziert. Unter der Prämisse, dass die SprunggelenkStrategie eine zentrale Rolle innerhalb des sensomotorischen Anteils des Gleich gewichts hat, ist es hilfreich, wenn neben den motorischen Tests auch ein validierter Fragebogen zur Erfassung von Beschwerden und funktionellen Einschränkungen im Bereich von Fuss und Sprunggelenken genutzt werden kann. Empfohlen sei hier der Fragebogen Foot and Ankle Ability Measure (FAAM-G), der einer Tabelle 2: Bewertungstabelle des EinbeinSprungtests, basierend auf der subjektiven Einschätzung der biomechanischen Indikatoren; Punktescore gegenwärtig nur für intraindividuelle Verlaufskontrolle nutzbar. (U. Geiger 2023) seits Auskunft über Tätigkeiten des alltäglichen Lebens als auch über mechanische Einschränkungen im Sport gibt. Der Trainingsaufbau Das wichtige Trainingsprinzip der progressiven Belastungsstei- gerung wird beim Training der Gleichgewichtsleistungen über die Belastungsstufen statisch, dynamisch und reaktiv realisiert. Abhängig von der individuellen Zielsetzung ist zusätzlich eine weitere Differenzierung der Trainingsbelastung über die sich reziprok verhaltenden Parameter wie Belastungsdauer und Belastungs intensität (Bewegungsgeschwindigkeit) nützlich. Es mag auf fallen, dass für ein sensomotorisches Training hier keine Trainingsmittel vorgeschlagen werden, die eine explizit «wacklig instabile» Unterlage – auf der keine räumliche (Fort)Bewegung möglich ist – vorsehen (vgl. Tab. 3). Bewegungsmedizin – Nr. 22 / September 2024 19Next >