< PreviousBewegungsmedizin – Nr. 14 / September 2022 Fachliche Informationen Bewegungs- und Gesundheitsförderung eingeschränkt sind. In der Halswirbelsäule sind die Gelenkfl ächen schräg gegen die Horizontale nach hinten geneigt und erlauben somit eine gute Beweglichkeit um alle drei Hauptbewegungs- achsen. Die Flächen der Brustwirbelgelenke liegen fast auf der Frontalebene, weshalb die Rückneigung in diesem Bereich ein- geschränkt ist, zusätzlich verstärkt durch die dachziegelartig übereinanderliegenden Dornfortsätze. Die Gelenkfl ächen der Lendenwirbel sind sagittal gestellt, dadurch entsteht eine starke Rotationshemmung. Extension, Flexion und Lateralfl exion hin- gegen sind gut möglich. Eine weitere Beschränkung der Beweglichkeit in den einzel- nen Bewegungssegmenten erfährt die Wirbelsäule durch die Bandscheiben. Sie bestehen hauptsächlich aus Faserknorpel und sind fest mit den Deckplatten der Wirbelkörper verwachsen (Syn- chondrose). Die Bandscheiben sind vor allem im unteren Wirbel- säulenbereich keilförmig und tragen so zur Ausbildung der phy- siologischen Krümmung bei. Die Bandscheiben machen etwa ein Viertel der Länge der Wirbelsäule aus. Funktionell lassen sich im Faserknorpel der Bandscheiben zwei Anteile unterscheiden: Im Anulus fi brosus verlaufen zirkuläre Faserzüge aus Kollagen, die sich schraubenförmig überkreuzen und die Bandscheibe in den Wirbelkörper verankern. Sie umschliessen den zentral gelegenen Nuceus pulposus, einen fl üssigkeitsreichen Gallertkern. Dieser trägt wesentlich zu den Federungseigenschaften der Wirbelsäule bei, da er wie ein Wasserkissen Druck- und Stossbelastungen dämpft. Bei Bewegungen verschiebt sich der Kern geringfügig und weicht zum Ort geringerer Belastung aus. Bei einer Beugung der Wirbelsäule nach vorne verlagert er sich nach dorsal. Diese Bewegungen sowie der Wechsel von Entlastung und Belastung führen zu einem Flüssigkeitsaustausch innerhalb der Bandschei- ben, der für die Ernährung ihres nicht durchbluteten Gewebes von grosser Bedeutung ist. Einen besonderen Stellenwert für die Stabilität und das Bewegungsausmass der Wirbelsäule haben die Bänder, die in Längsrichtung verlaufen und jeweils einzelne Teile der Wirbel (Körper, Bogen, Muskelfortsätze) untereinander verbinden. An der Vorder- und Rückseite der Wirbelkörper verlaufen zwei lan- ge Bänder, das Ligamentum longitudinale anterior und das Lig. longitudinale posterior. Beide bestehen aus zugfestem Kollagen. Das vordere Band ist fest mit den Wirbelkörpern verbunden, während das hintere hauptsächlich den Bandscheiben anhaftet. Das vordere Längsband wird bei Rückbeugung der Wirbelsäule auf Zug beansprucht und grenzt damit die Bewegung ein. Die Wirbelbögen werden durch die Ligg. interarcualia – aufgrund ihrer gelblichen Farbe auch Ligg. fl ava genannt – verbunden. Sie werden vor allem bei Rotationen gespannt. Da das Lig. fl avum im Gegensatz zu anderen Bändern mehr aus elastischen Fasern besteht, kehren die Wirbelkörper nach einer Rotationsbewe- gung immer wieder in die Ausgangslage zurück. Die Querfort- sätze werden über die Ligg. intertransversalia und die Dorn- fortsätze über die Ligg. interspinalia verspannt. Über die Spitzen der Dornfortsätze verläuft zusätzlich vom 7. Halswirbel bis zum Kreuzbein das Lig. supraspinale, das bei der Vorbeugung der Wirbelsäule unter Zugspannung gerät. Die Bänder und der Nucleus pulposus eines Bewegungs- segments haben bezüglich der Stabilisierung der Wirbelsäule eine gemeinsame Wirkung. Der Nucleus pulposus verfügt über einen gewissen Quellungsdruck, der die Wirbelkörper auseinan- dertreibt. Dadurch geraten die Bänder sowie der Anulus fi brosus unter Spannung. Somit verfügt die Wirbelsäule über ihre passi- ven Strukturen auch ohne Muskelzüge bereits über einen ge- wissen Selbstspannungsapparat ihrer Bewegungselemente. Die Bänder der Wirbelsäule tragen zur Stabilisierung bei.ANZEIGEBewegungsmedizin – Nr. 14 / September 2022 Fachliche Informationen Bewegungs- und Gesundheitsförderung Muskuläre Wirbelsäulenstabilisierung Zwei muskuläre Stabilisierungssysteme werden unterschieden. RICHARDSON et al. geben dem Modell der segmentalen Stabilität den Vorzug. Die Multifi dii und Transversii seien für die Stabilisie- rung der einzelnen Wirbelkörper hauptverantwortlich. In Unter- suchungen konnte gezeigt werden, dass diese Muskeln bei Perso- nen, die nur oberfl ächlich liegende Muskeln trainieren, zeitlich verzögert angesteuert wurden. Diese und weitere Untersuchun- gen stützen die These, dass Rückenschmerzen oft deshalb ent- stehen, weil die sogenannte «tiefe Muskulatur» zu schwach ist bzw. zeitlich zu spät aktiviert wird. Als Kritik an dieser These sei hier erwähnt, dass es äusserst schwierig ist, muskuläre Aktivität in der Tiefe zu messen, geschweige denn herauszufi nden, wie viel Kraft diese Muskeln entwickeln können. Die Untersuchung von RICHARDSON wurde mit EMG- Elektroden auf der Haut durchgeführt. Aufgrund dieser Mess- methodik auf spezifi sche Muskeln zu schliessen, hinterfragen Experten sehr kritisch, da neben den erwähnten Multifi dii und Transversii noch andere, ebenfalls tiefl iegende Muskeln in Frage kommen. Die tiefsten Rückenmuskeln werden zur refl ektori- schen, autonomen Muskulatur gezählt, das heisst, wir können An der muskulären Wirbelsäulenstabilisation sind verschiedene Muskelsysteme beteiligt.Bewegungsmedizin – Nr. 14 / September 2022 diese Muskeln nicht bewusst ansteuern, sondern sie reagieren refl exartig. Deshalb ist das Trainieren auf instabilen Unterlagen ein Bestandteil des Wirbelsäulentrainings geworden. Der Trainingseffekt liegt hierbei in einer verbesserten Ko- ordination, nicht in einem Kraftgewinn. Es soll erreicht werden, dass die einzelnen Wirbelkörper bei jeder Bewegung im Raum stets richtig zueinander stehen. Dies erfordert mehr Feinmoto- rik als Kraft. Das zweite Modell ist die Facettenverspannung im Raum nach THOMY et al. Dieses besagt, dass die grossen Muskelzüge wie der Latissimus, der Glutaeus und von ventral alle Bauch- muskeln über die Fascia thoracolumbalis und die Rectusscheide miteinander verspannt sind und so die Wirbelsäule umgürtend stabilisieren. Über den Tractus nach unten und über den Trape- zius in die thorakalen Faszien ist gemäss diesem Modell der ganze Körper verspannt und stabilisiert. Es sei hier noch ergänzend erwähnt, dass Muskeln, die nicht eigentlich zur Rückenmuskulatur gezählt werden – wie z. B. der Iliopsoas oder alle Gesässmuskeln –, jedoch die Becken- stellung und damit indirekt auch die Wirbelsäule beeinfl ussen. Die beiden Modelle widersprechen sich nicht. Deshalb ha- ben sicher beide ihre Berechtigung, und es sollten auch beide in der Trainingsplangestaltung berücksichtigt werden. Spezifi sche Wirbelsäulenerkrankungen Es gibt drei Erkrankungen, deren Schmerzen überwiegend durch aseptische, entzündliche Prozesse gekennzeichnet sind: Morbus Scheuermann, Morbus Bechterew und die Facettengelenksarth- rose. Eine andere Gruppe von Erkrankungen zeichnet sich durch einen überwiegend neuropathischen Schmerzanteil aus: Gleit- wirbel, Skoliose, Spinalkanalstenose und Bandscheibenvorfall. Bei diesen Beschwerdebildern wird der Schmerz durch eine mechani- sche Reizung von Nerven verursacht, die aus dem Wirbelkanal austreten. Die Osteoporose ist getrennt von diesen beiden Gruppen zu nennen. Gesundheitsexperten unserer Branche sollten diese Be- schwerdebilder kennen und Risikofaktoren im Training vermei- den. Im Folgenden werden die genannten Erkrankungen kurz beschrieben. Der spezifi sche Umgang mit diesen Wirbelsäulen- beschwerden wird im Teil «Umsetzung in die Praxis» erläutert. Morbus Scheuermann M. Scheuermann ist eine Wachstumsstörung der knorpligen Grund- und Deckplatten der BWS und betrifft meist Jungen in der Pubertät. Zum einen bricht Bandscheibengewebe in den Wir- belkörper ein (sogenannte Schmorl-Knötchen) und es kommt zu Schädigungen der Bandscheiben. Zum anderen wachsen die Grund- und Deckplatten nicht gleichmässig. Im ventralen Bereich wachsen sie langsamer als im dorsalen Bereich. Es bilden sich Keilwirbel, die zur Ausbildung des typischen Rundrückens (fi xierte Kyphose) führen. Die genauen Ursachen von M. Scheuermann sind noch un- klar. Eine genetische Komponente liegt auf der Hand, die wahr- scheinlich noch durch einseitige Belastungen, wie sie z. B. in einigen Leistungssportarten oder durch eine allgemeine Hal- tungsschwäche auftreten, begünstigt wird. Je nach Stadium der Erkrankung ändern sich die Symptome. Im Anfangsstadium treten kaum Symptome auf, da die Wirbel- veränderungen ein gewisses Ausmass erreicht haben müssen, um wahrgenommen zu werden. Eine Diagnose ist deshalb häufi g ein Zufallsbefund. Im fortschreitenden Stadium bildet sich die ver- stärkte Kyphose aus, die Arme fallen etwas nach vorne, die Brust fällt ein und die Rückenschmerzen treten als entzündliche Pro- zesse schubweise und massiv auf. Im Endstadium zieht die Deformierung eine veränderte Statik des gesamten Körpers mit sich, was indirekt die Mobilität und die Belastbarkeit anderer Gelenke (v. a. von Schultergürtel und Bewegungssegmenten der HWS und LWS) in Mitleidenschaft zieht. In der Regel kommt die Erkrankung nach dem 18. Lebens- jahr von selbst zum Stillstand. Die Mehrzahl der Betroffenen ist im Alltag nicht beeinträchtigt und Erwachsene haben nur bei schweren Fällen noch Schmerzen. Typisch für M. Scheuermann: ausgeprägte Hyperkyphose der Brustwirbelsäule Normale KyphoseHyperkyphoseBewegungsmedizin – Nr. 14 / September 2022 Fachliche Informationen Bewegungs- und Gesundheitsförderung Morbus Bechterew Morbus Bechterew, auch bekannt unter der Bezeichnung ankylo- sierende Spondylitis, ist eine entzündlich-rheumatische Allge- meinerkrankung mit Manifestation besonders an der Wirbelsäule. Sie zählt zu den sogenannten seronegativen rheumatischen Er- krankungen, da der Rheumafaktor und antinukleäre Antikörper im Blut nicht nachweisbar sind. Durch den chronischen Entzündungsreiz bilden sich zwi- schen den Wirbeln knöcherne Brücken, sodass die einzelnen Wir- bel kaum noch voneinander abgrenzbar sind. Im Endstadium führt die Krankheit zur typischen knöcher- nen Versteifung der Wirbelsäule wie zu einem unbeweglichen Stab (auch «Bambusstab-Wirbelsäule»). Ohne entsprechendes lebenslanges Bewegungstraining entwickelt sich die charakteristische Haltung von Bechterew-Pa- tienten mit stark vorgebeugtem Rumpf. Das Training kann die Versteifung der Wirbelsäule zwar nicht verhindern, jedoch dafür sorgen, dass die Versteifung in einer für die betroffenen Personen einigermassen alltagsgünstigen Haltung geschieht. Facettengelenksarthrose Wie jeder Form der Arthrose liegt bei der Facettengelenksarthro- se eine degenerative Veränderung des Gelenkknorpels und eine Entzündung der Innenschicht der Gelenkkapsel vor. Die Gelenkknorpelfl ächen werden rau, reissen auf und wer- den durch die Entzündung der Gelenkkapsel-Innenhaut zerstört, was im Endstadium zur Versteifung des Gelenks führen würde. Die Ursache der Arthrose ist ein Missverhältnis zwischen Belastungsfähigkeit und tatsächlicher Belastung des Gelenks. Unterschieden wird in die primäre Arthrose, deren Ursachen un- geklärt sind, und in die sekundäre Arthrose, welche die Folge von angeborenen oder erworbenen Gelenkdeformierungen ist. So können andere Wirbelsäulenerkrankungen, beispielsweise Gleit- wirbel, auch zur Facettengelenksarthrose führen. Ist die Arthrose Folge einer Verletzung wie etwa einer Fraktur, spricht man von einer posttraumatischen Facettengelenksarthrose. Gleitwirbel Der Fachbegriff für das Wirbelgleiten lautet Spondylolisthesis und beschreibt das Abgleiten eines Wirbels meistens nach vorne, in der Regel im LWS-Bereich. Oft liegt eine erblich bedingte Fehl- bildung des Wirbelbogens vor, die zu einer Spaltbildung zwischen den Gelenkfortsätzen führt. Häufi gster Gleitwirbel ist der unters- te Lendenwirbel, also das Segment L5/S1. In Leistungssportarten, bei denen es bei überstreckter Wirbelsäule zu hohen Kraftein- wirkungen kommt (z. B. Ringen, Geräteturnen, Speerwurf) treten Gleitwirbel belastungsbedingt gehäuft auf. Die Gefahr dieser Instabilität liegt im Risiko einer Nerven- kompression. Der Grad der Verschiebung wird nach Meyerding in 4 Stufen eingeteilt. Ab Stufe 3 wird die Prognose schlechter und eine operative Stabilisierung des Wirbelsegments wird erforder- lich. Eine Versteifung von Wirbeln sichert zwar den Wirbel in Be- zug auf ein weiteres beziehungsweise vollständiges Abgleiten (Spondyloptose), bringt in der Regel aber auch Folgeprobleme mit Fortschreitende Versteifung der Wirbelsegmente bei M. BechterewDie Symptome der Facettengelenksarthrose entsprechen den allegmeinen Arthrosebeschwerden. Ankylosierende Spondylitis gesunde Wirbelsäule Entzündungsprozesse Verknöcherung als Folge der EntzündungBewegungsmedizin – Nr. 14 / September 2022 sich, da aufgrund der nun vergrösserten Hebelwirkung des ver- steiften Segments die Bandscheibenbelastung der darüber- und darunterliegenden Wirbel erhöht wird. Skoliose Die medizinische Defi nition der Skoliose ist eine fi xierte seitliche Verbiegung der Wirbelsäule von mindestens 10 Grad (Cobb-Win- kel) in der Frontalebene mit gleichzeitig fi xierter Torsion (Verdre- hung in der Sagittalebene). Der Cobb-Winkel, der im Röntgenbild bestimmt werden kann, gibt die Stärke der Krümmung an. In schweren Fällen liegt auch eine Krümmung auf der Horizontal- ebene vor, am häufi gsten im thorakalen Bereich. Bis 40 Grad liegt eine leichte, zwischen 40 und 60 Grad eine mittelschwere Skoliose vor. 61 bis 80 Grad ist als Grad 3 be- ziehungsweise schwere Skoliose defi niert. Alles darüber wird als sehr schwere Skoliose (Grad 4) bezeichnet. Je nachdem, zu welcher Seite die Krümmung vorliegt, wird von einer rechts- beziehungsweise linkskonvexen Skoliose ge- sprochen. Aufgrund der fi xierten Rotation zeigen die Dornfort- sätze nicht gerade nach hinten, sondern drehen sich in die Rich- tung der Wirbelsäulenkrümmung. Je nach Lokalisation der Hauptkrümmung (Scheitelpunkt der Krümmung) wird eine thorakale, eine thorakolumbale oder eine lumbale Skoliose unterschieden. Aufgrund der Fehlstellung entstehen unfunktionelle Span- nungs- und Druckkräfte auf die Wirbelkörper, die eine verzogene Knochenstruktur nach sich ziehen. Auf der konvexen Seite (nach aussen gewölbt) ist der Wirbelkörper höher als auf der konkaven (nach innen zeigende) Seite. Gleiches gilt auch für die mit den Wirbelkörpern verwachsenen Bandscheiben. Muskulär sind häu- fi g Abschwächungen auf der konvexen und Verkürzungen/Ver- spannungen auf der konkaven Seite feststellbar. 90 % der Fälle sind idiopathisch, d. h. ursächlich ungeklärt. Häufi g fällt eine Seitendifferenz des Schulter- und evtl. auch des Beckenstands auf. Je nach Lokalisation der Skoliose fällt beim Vorbeugen ein Rippenbuckel (BWS) oder ein Lendenwulst (LWS) auf. Bei leichten Skoliosen ist die betroffene Person im Alltag oder im Training nicht eingeschränkt. Von der idiopathischen Skoliose ist die sekundäre Skoliose zu unterscheiden, die immer die Folge einer bekannten Ursache und nur vorübergehend ist. Beispielsweise kann ein Becken- schiefstand aufgrund einer ISG-Blockade auch zu einer leichten Skoliose führen, die ein Chiropraktiker oder Physiotherapeut je- doch durch entsprechende manuelle Manipulation wieder behe- ben kann. Bei Kindern und Jugendlichen kann durch eine entspre- chende Skoliose-Therapie versucht werden die Verkrümmung zu vermindern, beziehungsweise dafür zu sorgen, dass sie sich nicht verschlimmert. Beim abgeschlossenen Knochenwachstum eines Erwachsenen ist diese Therapie jedoch nicht sinnvoll. Gleitwirbel: L4 gleitet über L5Typischer «Rippenbuckel», insbesondere bei der Vorneigung Einfache Überprüfung der Fehlstellung Normale Wirbelsäule SkolioseBewegungsmedizin – Nr. 14 / September 2022 Fachliche Informationen Bewegungs- und Gesundheitsförderung Spinalkanalstenose Unter Spinalkanalstenose versteht man eine Verengung des Wir- belkanals. Auch hier wird je nach Lokalisation von einer lumbalen, thorakalen oder zervikalen Spinalkanalstenose gesprochen. Der Schweregrad der Verengung wird mittels der Magnetresonanz- tomographie festgestellt. Eine relative Spinalkanalstenose liegt dann vor, wenn der Kanaldurchmesser kleiner ist als 12 mm. Eine absolute Spinalkanalstenose ist bei einem Durchmesser von we- niger als 10 mm defi niert. Die häufi gste Ursache der Stenose ist der Verschleiss der Wirbelsäule. Bandscheiben verlieren an Flüssigkeit und federn Belastungen weniger gut ab. Die Wirbelkörper werden so höher belastet und drücken auf den Spinalkanal. Auch sind die Bänder der Wirbelsäule nicht mehr so gut gespannt und die gesamte Wirbelsäule wird instabiler. Ein so verursachtes Wirbelgleiten drückt den Kanal zusammen. Eine schwache Rückenmuskulatur, welche die Instabilität der Wirbelsäule nicht abpuffern kann, führt dazu, dass sich neue Knochenstrukturen an den Wirbelkör- pern bilden, sogenannte Osteophyten. Diese verschlimmern die Verengung zusätzlich. Auch knöcherne Neubildungen, die etwa durch eine Facettengelenksarthrose verursacht werden, begüns- tigen die Spinalkanalstenose. Bandscheibenvorfall Der Bandscheibenvorfall, auch Diskushernie genannt, wird in ver- schiedene Abstufungen unterteilt. Eine Fissur der Bandscheibe liegt vor, wenn kleine Risse im Faserkern erkennbar sind. Diese sind in der Regel nicht spürbar, aber eine funktionelle Abschwächung der Bandscheibe ist möglich. Eine Protorsion ist eine Vorwölbung der gesamten intakten Bandscheibe, die in alle Richtungen möglich ist. Ein bekanntes Beispiel ist der sogenannte Hexenschuss (Lumbago). Bei einem Prolaps ist der Faserring eingerissen, der Kern liegt aber noch im System der Bandscheibe. Bei einem Prolaps mit Sequester- bildung ist der Kern ausgetreten und drückt in den Wirbelkanal be- ziehungsweise auf die darin verlaufenden Spinalnerven. Eine Operation ist dann notwendig, wenn es zu Inkontinenz (Notfall!) und motorischen und/oder sensorischen Ausfällen kommt. Sequesterbildung ohne neurologische Ausfälle müssen nicht operiert werden. Die Sequester werden vom Körper wieder abgebaut. Risse des Faserrings verheilen ähnlich wie eine Seh- nenteilruptur. Es handelt sich schliesslich auch hier um kollage- nes Bindegewebe. In einer ersten neurologischen Untersuchung wird der Arzt den Patienten auf das sogenannte Lasègue-Zeichen prüfen. Da- bei wird in Rückenlage das gestreckte Bein passiv im Hüftgelenk Die Stenose des Wirbelkanals kann verschiedende Ursachen haben. normaler Zustand WirbelkanalVerengung des Wirbelkanals Stenose SpinalkanalstenoseBewegungsmedizin – Nr. 14 / September 2022 gebeugt. Tritt bereits bei 45 Grad ein Schmerz in Rücken, Gesäss und/oder Bein auf, weist dies auf eine Problematik der Rücken- segmente L4/S2 hin. Das umgekehrte Lasègue-Zeichen (die Pati- entin, der Patient ist in der Bauchlage und es wird passiv eine Überstreckung im Hüftgelenk durchgeführt) weist auf eine Ner- venkompression L3/L4 hin. Beim Bragard-Test wird zusätzlich der Fuss passiv dorsalfl ektiert. Bandscheibenvorfälle betreffen fast immer die Lendenwir- belsäule – seltener sind sie zervikal bzw. thorakal – weil das Kör- pergewicht auf den LWS-Bereich einen besonders hohen Druck ausübt. Am meisten betroffen sind die Segmente L4/L5 und L5/S1. Auch wenn in der medizinischen Literatur als häufi gste Ursache immer noch der altersbedingte «Verschleiss» genannt wird, bin ich der Meinung, dass dies überholt ist. Es treten auch sehr viele Bandscheibenvorfälle bei jungen Menschen auf. Bewe- gungsmangel und die damit einhergehende schwache Rumpf- muskulatur, einseitige Fehlhaltungen und Übergewicht sind die Hauptursachen. Eine gesunde Bandscheibe verträgt Belastungen bis zu 300 kg/cm 2 . Eine schlecht «ernährte» Bandscheibe ist jedoch weitaus weniger belastbar. Die Versorgung der Bandscheibe er- Der Prolaps mit Sequesterbildung führt in der Regel zu neurologischen Ausfällen. folgt über Diffusion / Osmose, da sie keine Blutgefässe besitzt. Die Hydration, d. h. der Ein- und Ausstrom von Flüssigkeit, die Nähr- stoffversorgung und der Abfallabtransport erfolgen durch Bewe- gung. Denken wir an den Quelldruck des Kerns zurück. Bewegung des Kerns bedeutet, dass er Kompression braucht, um anschlies- send durch den eigenen Quelldruck wieder in die Ausgangsform zurückzukehren – ähnlich wie ein härterer Gummiball, den man zusammendrückt. Das Schlimmste, was man seinen Bandscheiben also antun kann, ist ewiges Sitzen in der gleichen Position. Soviel zu den spezifi schen Beschwerdebildern. Wie an- fangs erwähnt, machen sie den weitaus kleineren Teil der Rücken- schmerzen aus. Trotzdem sollten unsere Gesundheitsfachleute diese Beschwerdebilder kennen und auch mit den gängigen Be- griffl ichkeiten vertraut sein. Nicht selten können die spezifi schen Wirbelsäulenerkrankungen auch in kombinierter Form auftreten und die eine oder andere Erkrankung verursachen. Wer die Be- schwerdebilder wirklich verstanden hat, dem fällt es nicht schwer, die entsprechenden Trainingsmassnahmen beziehungsweise die Kontraindikationen abzuleiten, wie sie im folgenden Artikel auf- gelistet sind. BandscheibenvorfallBewegungsmedizin – Nr. 14 / September 2022 Fachliche Informationen Bewegungs- und Gesundheitsförderung Die auf den vorhergehenden Seiten beschriebenen spezifi schen Wirbelsäulen- erkrankungen verlangen eine gut trainierte Muskulatur, um die alltäglichen Lasteinwirkungen auf die Wirbelsäule abpuffern zu können. Dies verlangt aber eine differenzierte Herangehensweise. Von André Tummer Spezifi schen Rückenbeschwerden kann niemals nur mit Standardübungen begegnet werden. Umsetzung in die Praxis: Training mit spezifischen WirbelsäulenbeschwerdenBewegungsmedizin – Nr. 14 / September 2022 Der alleinige standarisierte Einsatz von «herkömmlichen» Ma- schinen zur Wirbelsäulenextension und -fl exion greift sicher zu kurz. Führen wir uns also nochmals die muskulären Sicherungs- systeme der Wirbelsäule vor Augen. A. GOTTLOB fasst diese in seinem Buch «Differenziertes Krafttraining» sehr gut zusammen (siehe Tab. 1). Tab. 2: Die Gewichtung der eingesetzten Trainingsmittel und -methoden ist bei jeder Person anders. Tab. 1: Die 7 muskulären Sicherungssysteme und deren Funktionen (aus. A. Gottlob, Differenziertes Krafttraining) Es gilt also, alle hier aufgeführten Muskeln in die Trainings- planung einzubeziehen, auch wenn aufgrund einer Wirbelsäulen- erkrankung Anpassungen in der Übungsausführung notwendig sind. Ausserdem müssen bei einer langfristigen Planung die rich- tigen Trainingsmittel in Kombination mit der richtigen Trainings- methode zum richtigen Zeitpunkt gewählt werden (siehe Tab. 2). TrainingsübungProContra Bewegungen unter «erschwerten», instabilen Bedingungen – Einbeziehen sensomotorischer Fähigkeiten – Einbeziehen kognitiver Komponenten Nur noch Training mit geringen Lasten möglich Verbesserung der neuronalen Kommunikationsgeschwin- digkeit zwischen Nervensystem und Muskelsystem Keine strukturellen Anpassungen am Muskel- und Skelettsystem Integration freier Bewegungen mit Kabelzügen und freien Gewichten Höhere Anforderung an Stabilisierungsarbeit und Stützmotorik Technisch schwierigere Ausführung Simulation alltags- oder sportartspezifi scher Bewegungen ➔ Kraftumsetzung Geringere Lasteinleitung als an geführter Maschine Isoliertes Kräftigen an geführten Geräten Geführte Bewegungungen ermöglichen hohe Lasteinleitung Geführte Bewegungen kommen im Alltag nicht vor Hohe SicherheitGeringer Anspruch an Koordination Isometrische Übungen – «Angst vor falscher Bewegung nehmen» – Gefühl für muskuläre Spannung entwickeln – Lasteinwirkungen aus allen Richtungen Widerstand leisten können – Kraftentwicklung nur in einer Gelenkstellung anstatt über das volle R.O.M. – Passive Strukturen werden ebenfalls nur in einer Stellung belastet Hohe SicherheitGeringer Anspruch an Koordination Muskuläre WS-SicherungssystemeFunktionen 1. Rückenstrecker Die Gesamtheit des Erector spinae inkl. aller mono- und mulitsegmentalen Muskelzüge – Vertikale Verspannung der Fascia thoracolumbalis – Segmentspezifi sche Aufrichtung aus der Flexion und Lateralfl exion – Seit- und Rotationsstabilisation – WS-Haltung (Statik) 2. Seitliche Bauchmuskulatur Obliquus internus und externus; Transversus abdominis sowie als Seitstabilisator der Quadratus lumborum – Horizontale Verspannung der Fascia thoracolumbalis – Segmentspezifi sche Aufrichtung aus Lateralfl exion und Extensionsstellung – Seit- und Rotationsstabilisierung – (intra-abdominale Druckstütze) 3. Latissimus dorsi und der oberfl ächliche Anteil des Glutaeus maximus ➔ Diagonalschlinge – Diagonale Verspannung der Fascia thoracolumbalis – ISG-Sicherung 4. Gerade Bauchmuskulatur (Rectus abdominis) – Segmentspezifi sche Aufrichtung aus der Extensionsstellung – Schambeinfugensicherung – WS-Haltung (Statik) 5. Psoas– Ventrale Stabilisierung der LWS 6. Beckenstellende Muskeln Beckenkipper: Iliiopsoas, Rectus femoris; alle zum Becken ziehenden Rückenstrecker Beckenaufrichter: Glutaeus maximus, Ichiocruale Gruppe, Rectus abdominis – Beckensicherungs- und Beckenstellungseinfl uss – ISG-Stabilisierung – WS-Haltung (Statik) 7. HWS-Muskulatur Inkl. Trapezius pars descendens – HWS-Stabilisierung in allen Raumpositionen – Kopfsicherung – WS-Haltung (Statik)Next >